Herr Hahn, der Komponist Viktor Ullmann gehörte neben Pavel Haas, Gideon Klein und Hans Krása zu den bereits vor 1933 bekannten Komponisten, die im KZ Theresienstadt interniert worden waren. Ebenso viele Maler und Dichter, unter ihnen auch Peter Kien, Ullmanns Librettist. Heute nur schwer vorstellbar: die Parallelität von Hunger, Tod und Grausamkeit auf der einen Seite und musikalischer und literarischer und künstlerischer Hochkultur auf der anderen. Und hier war 1943/44 der „Kaiser von Atlantis“ entstanden - welche Rolle spielt Viktor Ullmanns Musik bisher in Ihrem eigenen Repertoire?
Ich habe von Viktor Ullmann bisher tatsächlich noch nichts anderes gemacht. Während meines Studiums hatte ich mich diesen Komponisten beschäftigt und auch ein Stück von Pavel Hass dirigiert, „Study for strings“, ein tolles Stück! Das war mein erster Kontakt mit dieser Musik. Beim Durchhören verschiedener Werke, insbesondere auch denen von Ullmann, verstärkte sich mein Eindruck, dass diese Stücke auch abseits ihrer grausamen Entstehungsgeschichte eine Daseinsberechtigung haben. Die Musik ist so stark, dass sie auch ohne diesen Hintergrund wirkt. Ullmans „Kaiser von Atlantis“ zum Beispiel muss man einfach spielen, weil es ein so großartiges Stück ist, nicht, weil es im KZ entstanden ist! Natürlich muss man immer wieder auch den Diskurs darüber anregen, was damals passiert ist, weil das – wir merken das heute oft – all zu leicht vergessen wird.
Seine Kammeroper „Der Kaiser von Atlantis“ hat Viktor Ullmann selbst als „Spiel in einem Akt“ bezeichnet. 1943/44 entstanden wurde sie erst 1975 in Amsterdam uraufgeführt. Jetzt erscheint bei BR-Klassik eine Aufnahme, bei der Sie das Münchner Rundfunkorchester dirigieren. Wann sind Sie diesem Werk zum ersten Mal begegnet?
Das war vor sechs oder sieben Jahren. Jemand erzählt mir davon und schwärmte, wie toll das wäre. Als ich es dann selbst angehört hatte, war ich begeistert und wollte es unbedingt selbst einmal machen. Dann begann die Zusammenarbeit mit dem Münchner Rundfunkorchester, die sich schnell intensivierte. Als wir zum Beginn der Corona-Zeit die Spielzeit 2021/2022 planten, war schon absehbar, dass uns das Thema Corona so bald nicht verlassen würde. Für die Serie „Konzertante Oper“ brauchten wir also Werke, die nicht zu opulent waren. Da bot es für mich an, dem Orchester dieses Werk vorzuschlagen. Es passte nicht nur von seinem Umfang her - es entspricht auch genau der programmatischen Schiene, die dieses Orchester fährt. Und für mich ergab sich so auf wunderbare Weise die Möglichkeit, dieses Stück endlich dirigieren zu können. Wenn ich sonst konzertante Oper dirigiere, dann möchte ich natürlich größtmögliches Orchester ausnutzen, mit allem, was mir zur Verfügung steht. Und in großen Opernhäusern wird ein solches Stück – leider – nicht auf der Hauptbühne gespielt, weil es eben eine Kammeroper ist… Das Rundfunkorchester jedenfalls war von der Idee begeistert.
Ich würde Sie gern danach fragen, wie Sie auf so ein Stück zugehen, das ja voller Metaphern und Gleichnissen steckt und zugleich voller ungewöhnlicher, Bilder, Figuren und Situationen: Kaiser Overall als vereinsamter Potentat, der abgehoben und isoliert regiert, der Tod, der nicht mehr „der Tod“ sein will und damit den Lauf der Welt aus dem Gleichgewicht bringt, der traurige Harlekin, Bubikopf, ein Mädchen, das als Soldat daherkommt und vieles mehr.
Wie nähern Sie sich so einem Werk? Wo setzen Sie Schwerpunkte der Auseinandersetzung damit?
Also im Normalfall ist mein erster Zugang zu einem neuen Werk immer ein musikalischer. Die Musik muss mich interessieren und dann muss sie natürlich auch zum Libretto und zur Geschichte passen. Bei diesem Stück war es tatsächlich nicht so. Das Libretto von Peter Kien ist so unbeschreiblich grandios, so detailverliebt, mit Sätzen, bei denen man wirklich schlucken muss. Etwa wenn der Harlekin sinniert … „schlaf Kindlein schlaf, ich bin ein Epitaph…“ Ich habe mir also das Libretto vorgenommen, habe auch die wenigen verfügbaren Quellen studiert. Es gibt ja keine endgültige Fassung, es ist mehrfach bearbeitet und gekürzt worden. Überliefert ist das Werk nicht etwa in einer gebundenen Partitur, sondern durch eine Menge Skizzen und einzelne Seiten Material, das für die Uraufführung nicht verwendet wurde. Wir hatten also einige Freiheit, zum Beispiel aus der Menge der Zwischentexte und Prologe, die die Geschichte resümieren und sie erweitern, für die Aufnahme einige hinzuzufügen. Mit dem Wissen um die diesen inhaltlichen Hintergrund hat sich mir erschlossen, was für eine einzigartige Musiksprache Ullmann hier gefunden hat. Wieviel Zitate er zum Beispiel verwendet, etwa die Hymne des Trommlers oder das „Hallo, hallo“, dem ja eine Verarbeitung des Deutschlandliedes zugrunde liegt. Aber Ulmann hat solche Zitate nicht einfach nur billig plakativ verwendet, sondern sie ganz geschickt verarbeitet. Was das Stück außerdem auszeichnet ist seine unglaublich reizvolle und ganz eigene Instrumentierung. Wie er das Banjo zum Beispiel einsetzt, oder das Saxofon, wie er die Trompete als einziges Blechblasinstrument sehr oft wahnsinnig tief spielen lässt, wie er durch den Einsatz des Harmoniums einen sakralen Rahmen schafft, nicht ohne eine gewisse Boshaftigkeit. Und dann eben diese kleine Besetzung…
… da ist sicher davon auszugehen, dass Ullmann nur für die ihm zur Verfügung stehenden Instrumente komponiert hat…
…ja sicher. Und ohne das verklären zu wollen zeigt sich, dass Krisenzeiten ganz faszinierende Werke hervorgebracht haben. Ob das architektonische Werke sind – in Kriegszeit wurden einige der schönsten Gebäude und Kulturstätten hervorgebracht – Texte, musikalische Werke. Solche schlimmen Zeiten können künstlerisch fruchtbar sein, sie müssen es wahrscheinlich auch sein, entspringen sie doch oft auch einem Drang zum „mentalen Überleben“.
Eine Besonderheit des Stückes liegt m. E. auch in der Figurenbehandlung durch Ulmann. Die Rolle des Trommlers etwa hat er nicht, wie man erwarten würde, für einen Tenor oder Bariton, sondern für eine Altistin komponiert...
… die eine gehörigen Ambitus zu erfüllen hat: es geht in sehr tiefe und dann auch in sehr hohe Tonlagen! Das kann natürlich auch einen pragmatischen Grund gehabt haben, zum Beispiel Ullmanns Sorge, dass sonst die Balance innerhalb des Ensembles gekippt wäre. Dann nämlich hätte man mit dem „Bubikopf“ eine einzige Frauenrolle, die da diesem Männerhaufen gegenübersteht. Dass unerwartete Stimmfächer bestimmten Rollen zugewiesen werden, war ja zu dem Zeitpunkt schon längst nichts neues mehr.
Der „Blick über den Tellerrand“ des klassischen Musikers Hahn
zeigt sich an einer gemeinsamen Produktion, die zeitgleich bei Warner Music erscheint: das Album „Continuum“ des Jazztrompeters Nils Wülker, bei dem Sie wiederum das MRO dirigieren. Wer ist da auf wen zugegangen?
Mein erstes Konzert mit dem MRO war die „Space Night in Concert“ im Jahre 2019. Nils Wülker war eingeladen, einige Stücke aus seinem damaligen Album gemeinsam mit dem Orchester zu spielen. Bei diesem Anlass haben wir uns kennen- und schätzen gelernt. Die Aufnahme seines „Continuum“- Albums war eigentlich früher geplant, aber coronabedingt verschoben worden.
Dem Jazz innewohnend ist ja normalerweise ein gewisser Anteil an Improvisation. Dieser Aspekt kann bei der Orchesterbegleitung nicht der vorrangige sein…
Tatsächlich ist, zumindest was die Orchesterparts angeht, alles ausgeschrieben, außer die Parts für die Combo aus Trompete, Klavier und Schlagzeug. Die sind aufeinander abgestimmt. Die klassischen Elemente verschmelzen mit denen des Jazz übergangslos.
Wie kann man sich Ihre Zusammenarbeit vorstellen?
Nils ist ein richtiger Jazzer, der es wirklich kann! Meine intensiven Jazz-Zeiten in Amerika liegen nun schon recht lange zurück, da war diese Erfahrung sehr wertvoll bei der Zusammenarbeit zwischen Jazz Combo und Orchester. Die gemeinsame Aufnahme hat aber auch viel Spaß gemacht und sie war gut, weil wir gemeinsam voneinander lernen konnten.